Ein Taxifahrer in Geldnöten, der nach Halle/Saale und in seine Vergangenheit fährt. Eine Sanitäterin, die von rauschhaften Nächten träumt. Ein Drogenhändler, der nicht mehr aus seinem Kreislauf von Handeln und Verhandeln herauskommt. Eine Verkäuferin in einem Kiosk-Betrieb, die in der Nacht ungebetenen Besuch erhält. Ein Drogenhändler, der aus Afrika stammt und eigentlich große Träume von Deutschland hatte.
Sie alle – und noch viel mehr – sind die Helden eines wirklich großartigen Romans. Die Rede ist von »Arbeit«, den Thorsten Nagelschmidt verfasst hat.
In seinem Roman, der im Frühjahr 2020 veröffentlicht wurde und der eindeutig in einer Zeit »vor Corona« spielt, zeigt er das Nachtleben von Berlin, aber nicht die fröhliche und feiernde Szene, die man aus Filmen und Büchern, aus Dokumentationen und Reportagen kennt. Der Autor schreibt über die Schattenseiten einer Metropole, in die viele Menschen reisen, um Partys zu feiern – oder dies eben »vor Corona« taten und wohl auch nach der Pandemie-Zeit wieder machen werden.
Dabei gelingen Nagelschmidt beeindruckende Einblicke in das Innenleben seiner Charaktere. Sie alle sind glaubhaft, sie alle sind auf ihre Art verzweifelt, und sie alle befinden sich in einem unaufhörlichen Strudel von Entscheidungen und Zwängen, aus denen sie kaum herauskommen. Der Autor scheint sich gründlich über manche Berufe informiert zu haben. Die Einblicke, die er in die Gedankenwelt seiner Figuren gibt, wirken auf mich so, als erzähle er von sich selbst, als habe er das alles selbst erlebt. (Was ja ganz offensichtlich nicht sein kann …)
Spannend ist, wie sehr sich die Figuren auf den Stil auswirken: Jede Erzählhaltung und jede Figur erhalten ihre eigene »Sprache«. Blickt der Autor ins Innenleben seines Taxifahrers, schreibt er anders, als wenn er von der Rettungssanitäterin und ihrer Welt erzählt. Die Innensichten sind nicht immer leicht auszuhalten – aber so sind Menschen eben: nicht einfach, oft von ihren Problemen geprägt und innerlich häufig zerrissen.
Nagelschmidts Charaktere haben es ohnehin nicht einfach. Es sind einfache Leute mit vielen Schwierigkeiten. Meist hapert es an Geld, manchmal auch an der sozialen Anerkennung; einen Traumberuf hat eigentlich niemand von ihnen. Sie streben nach Glück, wissen aber nicht, wie es erreichen sollen – oder es ist ihnen sogar längst klar, dass sie eigentlich keine Chance haben. Das alles schildert der Autor mit viel Einfühlungsvermögen, aber ohne jegliche Weinerlichkeit. Seine Figuren kämpfen, sie geben jedoh nicht auf.
Tatsächlich ist »Arbeit« ein Roman, auf den man sich anfangs ein wenig einlassen muss, der einen dann aber nicht mehr loslässt. Man möchte als Leser bald wissen, wie die Figuren miteinander umgehen, wer sich wo trifft und auf wen welches Schicksal wartet. Das alles ist in einem teilweise furiosen Stil gehalten, den ich als aussagekräftig und stark betrachte.
Nagelschmidt versucht nicht krampfhaft, »anspruchsvoll« zu schreiben – als »einfache Literatur« oder gar als »trivial« lässt sich sein Buch trotzdem kaum bezeichnen. Der Autor wirft seine Leser in eine Welt voller Realitäten – die in der Zeit der Corona-Pandemie allerdings auch schon wieder phantastisch wirkt – und zeigt ihnen parallele Welten, die buchstäblich nur eine Tür voneinander entfernt sind.
Die Lektüre macht nicht immer Spaß, aber sie fesselt. Wer eine tüchtige Dosis Realität zu schätzen weiß, dem empfehle ich dieses Buch. Wer gern Realitätsfluchten betreibt, für den ist das allerdings kein idealer Lesestoff. Allemal lohnenswert!
Erschienen ist der Roman als Hardcover im Fischer-Verlag; er umfasst 336 Seiten und kostet 22,00 Euro. Man kann ihn in allen Buchhandlungen bestellen, wobei die ISBN 978-3-10-397411-9 behilflich sein kann. Wer sich ein bisschen einlesen möchte, findet auf der Internet-Seite des Verlages eine Leseprobe. Das E-Book kostet übrigens 18,99 Euro.
Klaus N. Frick
